Der Pflegeblog: Erinnerungen bleiben
Ich sitze am Tisch, trinke einen Schluck Kaffee und schaue aus dem Fenster. Die Aussicht ist wirklich bezaubernd. Die Blätter werden langsam bunt, die Sonne strahlt wärmend auf meine Arme. Der Wind streicht sanft durch die Bäume, es wird Herbst. Nur im Herbst strahlen die Blätter in diesen Farben wie jetzt: rot, gelb, orange. In der Ferne dröhnt ein Laubbläser. Da fällt mir ein: Ich sollte vielleicht auch wieder mal das Laub zusammenrechen, doch der Tag neigt sich bereits dem Ende zu. Das hat noch Zeit bis morgen …
Bald kommt er nach Hause, Reto, mein Mann. Auch nach all den Jahren in denen wir nun schon verheiratet sind, freue ich mich, wenn ich seinen Schlüssel in der Tür drehen und ein lautes »Ich bin wieder da!« aus dem Flur höre. Ich bin sechsundreissig, Reto wird dieses Jahr vierzig. Bereits in der Schule hatte er den Schalk im Nacken. So war er immer für ein Spässchen zu haben, auch wenn er mir anfangs mit seiner lauten Art auf die Nerven ging. Bald sah ich jedoch den Ernst in seinen Augen, schätzte sein offenes Ohr und die Art, wie er mich ansah.
Ach, die Zeiten waren nicht immer einfach, auch mit Reto nicht. Wir mussten viel für unser Glück kämpfen. Das Geld war immer knapp. Als später unsere beiden Kinder auf die Welt kamen, war ich oft mit ihnen alleine. Bettina und Fabian. Fabian, der die quirlige Art seines Vaters hat und in der Schule einfach nicht still sitzen kann. Wie oft wir schon Briefe erhalten haben. Aber auch er schafft es mit seinem Charme, dass man ihm einfach nicht lange böse sein kann. Bettina kommt da eher nach mir: ruhig und eher schüchtern. Sie hat ihre Lehre als Kauffrau gerade angefangen; ihr scheint es zu gefallen.
Aus den Gedanken gerissen zucke ich zusammen. Eine rot-weiss gestreifte Katze streicht mir um die Beine. Hat es die Nachbarskatze einmal mehr in unser Haus geschafft? Sanft streichle ich ihr über den weichen Kopf, während sie sich an mich schmiegt.
Diese Momente der Stille tun gut, bevor alle von ihrem Alltagsgeschäft nach Hause kommen. Manchmal mag ich es, alleine zu sein. Aber als Schwester von fünf Geschwistern bin ich mir von klein auf Lärm gewöhnt. Auch meine Eltern hatten alle Hände voll zu tun, uns sechs Kinder jeden Tag sattzukriegen.
Als ich und Reto heirateten, führte mich mein Vater zum Altar. Das war das erste Mal, dass ich ihn weinen sah. Meinen starken, oft strengen Vater. Ihm war es immer wichtig, dass wir Kinder etwas aus und machen. Ich sollte mich unbedingt wieder einmal bei ihm melden und ihn zum Mittagessen einladen.
»Frau Studer?«
Ich blicke auf. Wer hat mich gerade gerufen?
Eine freundlich aussehende Frau steht vor mir. Ein hellgrünes Polohemd hat sie an, graue Hosen und die dunklen Haare hochgesteckt.
»Es wäre langsam Zeit für Sie, ins Bett zu gehen.«
Was macht diese Frau hier? Von wo kennt sie meinen Namen? Ich habe die Frau noch nie gesehen. »Wer sind Sie?«
»Also Frau Studer, das sollten Sie doch noch wissen, ich war ja schon gestern bei Ihnen.«
Ich blicke mich um. Ich bin nicht zuhause! Überall stehen Stühle und Tische, andere Menschen, alte Menschen, sitzen nebeneinander am Tisch. Die einen schlafen, die anderen schauen gelangweilt ins Leere. Irgendwie kommt mir dieser Ort bekannt vor. Wo bin ich denn nur? Jemand zieht mich in meinem Stuhl vom Tisch weg. Es ist die Frau im hellgrünen Polohemd.
»Was machen Sie da?«
»Ich begleite Sie jetzt in Ihr Zimmer«, sagt sie und stellt mir ein komisches Ding mit Rädern vor die Nase.
Ich schaue sie entgeistert an. »Ich muss doch noch für Reto kochen?« Wo ist Reto überhaupt? Nur er könnte mir in diesem Moment helfen. »Wo ist mein Mann?«
»Frau Studer, euer Mann ist vor längerer Zeit verstorben. Das wissen Sie doch.«
Reto? Verstorben? Mein Reto? Hier muss eine Verwechslung vorliegen!
»Kommen Sie, nehmen Sie den Rollator, ich helfe Ihnen beim Aufstehen«, sagt die Frau und rollt das Ding näher an meine Füsse. »Jetzt können Sie sich hier halten und aufstehen.«
Warum sollte ich einen Rollator brauchen? Ich habe doch noch nie in meinem ganzen Leben einen Rollator gebraucht? Die Frau schaut mich an.
»Ich brauche den nicht!«, sage ich und stehe auf. Ich mache einen Schritt nach vorne, aber irgendwie fühlt sich alles plötzlich so schwer an. Mein linkes Knie zittert bei jedem Schritt, den ich machen will. Und meine Finger fühlen sich irgendwie taub an. Ich stolpere fast über meine Füsse.
»Also doch, sehen Sie, es geht doch nicht ohne Rollator«, sagt die Frau und schiebt mir diesen zu.
Widerwillig halte ich mich daran fest, insgeheim froh darüber, mich irgendwo abstützen zu können. Aber wohin muss ich denn nun? »Ich muss nach Hause, meine Kinder kommen bald zurück!«
»Ja, für heute bleiben Sie noch eine Nacht hier. Kommen Sie mit, Frau Studer.«
Wir betreten einen langen Gang, überall sind Türen, keine kommt mir bekannt vor. Vorsichtig versuche ich, einen Schritt vor den anderen zu setzen, ohne umzufallen. Ich schaue auf den Boden, ich muss mich konzentrieren.
»So, wir sind da, gehen wir doch zusammen in Ihr Zimmer.«
»Mein Zimmer? Das ist mein Zimmer?«
»Ja, das ist Ihr Zimmer. Es ist sogar angeschrieben«, sagt die junge Frau und öffnet die Tür. Einladend streckt sie den Arm aus. »Kommen Sie!«, wiederholt sie.
Ich betrete den Raum. Da steht ja mein Sessel! Und meine Kommode! Und auf dem Nachttisch steht ein Foto von Reto! Was machen denn alle meine Sachen hier?
»Sie können jetzt noch auf’s WC.«
»Ich muss aber nicht aufs WC.«
»Doch Frau Studer, gehen Sie bitte noch einmal auf die Toilette, ich habe nachher keine Zeit mehr, Sie wieder zu begleiten.«
Auf der Toilette hilft mir die junge Frau, aus den Hosen zu schlüpfen. »Ach,Frau Studer, die Einlagen sind ja wieder voll?«
Einlagen? Welche Einlagen? Und dann auch noch »nass«? Das habe ich gar nicht gemerkt.
»Schauen Sie, hier ist euer Nachthemd, das können Sie noch anziehen.«
»Ich brauche doch kein Nachthemd! Ich schlafe sicher nicht hier!«
»Frau Studer, Sie sind im Altersheim. Schon seit drei Jahren. Sie wohnen hier.« Schlagartig wird mir bewusst, warum meine Möbel alle hier stehen. »Aber meine Kinder?«
»Die sind doch schon lange erwachsen Frau Studer. Die können schon gut auf sich selbst aufpassen.«
Fabian und Bettina. Ich überlege einen Moment. Es fällt mir wie Schuppen von den Augen: Ich bin schon lange keine sechsundreissig mehr. Aber wie alt ich nun wirklich bin, weiss ich auch nicht mehr. Die Umgebung kommt mir langsam bekannt vor. In dem Zahnglas auf dem Waschbecken steht meine Zahnbürste, in der Ecke hängt mein Morgenrock. »Wie bin ich denn hierhergekommen?«
»Sie sind vor drei Jahren hier eingetreten. Sie waren im Spital und sind dann zu uns gekommen. Erinnern Sie sich?«
Die Erinnerungen kehren langsam zurück. Ich weiss es zwar nicht mehr genau, aber Bettina hat mich damals mit dem Auto hierher gebracht.
Langsam begleitet mich die junge Frau mit den braunen Haaren zu meinem Bett. Sie hebt mir die Beine ins Bett, die sich doch so schwer anfühlen.
»So Frau Studer, ich wünsche Ihnen eine gute Nacht! Soll ich das Licht anlassen?« Ich verneine.
Mit einem »Schlafen Sie gut« verabschiedet sich die Frau und geht aus dem Zimmer. Ich liege da und schaue an die dunkle Decke. Denke nach. Langsam werde ich müde, ziehe die Decke unter das Kinn. Ich bin gerade dabei einzuschlafen, da fällt mir ein: Wo ist eigentlich Reto?
Swissspitalswag schreibt als Gastbloggerin den Pflegeblog. Sie arbeitet seit 8 Jahren im Pflegeumfeld. Ihr ist es wichtig, den Pflegeberuf mehr in die Öffentlichkeit zu rücken und mit Humor und Freude den Pflegealltag zu bestehen. Ihr Instagram-Profil findet ihr hier .
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